Auf der Suche nach uns selbst.

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Wer sind wir eigentlich? Woher kommen und wohin gehen wir? Lola hat sich dazu ihre Gedanken gemacht: »Jede Person, mit der wir sprechen, ist angefüllt mit eigener Geschichte. Einer Geschichte, zu der wir niemals einen vollständigen Zugang haben werden. Und trotz dieses fehlenden Zugangs muss diese Geschichte, obwohl wir von ihr nicht wissen, immer mitgedacht werden.« Und wer ist diese Lola? Nun, sie ist die Protagonistin in Mirna Funks Debüt »Winternähe«. Natürlich hat auch sie ihre eigene Geschichte.

Von der und noch viel mehr erzählt dieser Roman auf seinen 343 Seiten. Eine Fülle an Themen hat die 1981 geborene Autorin in ihrem Roman eingeflochten, in dem Lola im Mittelpunkt steht. Die 34-jährige Frau wurde – wie die Autorin selbst – in Ostberlin geboren und lebt auch da als Fotografin. Lolas Vater ist Jude, die Mutter nicht. Diese Konstellation zermürbt Lola schon ihr ganzes, junges Leben lang. Einerseits fühlt sich die junge Frau dem Judentum nah, haben ihre Großeltern väterlicherseits erzogen und kämpft gegen den Antisemitismus – sogar vor Gericht.

Andererseits ist sie offiziell gar keine richtige Jüdin. Das untersagt die Halacha. So ist sie hin- und hergerissen zwischen dem Jüdisch und Nichtjüdisch sein, fühlt sich wie ein Oxymoron. Mirna Funk findet für dieses Gefühl wunderbare, einfühlsame Beschreibungen: »Meistens hatte Lola ein positives Gefühl zu ihrem Oxymoron-Dasein. In ihr verband sich die Geschichte der Deutschen und der Juden, aber auch die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte, in ihr hauste das Vergessen und das Erinnern gleichermaßen. Etwas, das in der Realität schier unmöglich war, dem war sie täglich ausgesetzt. Aber wenn sie ein negatives Gefühl zu ihrem Oxymoron-Dasein hatte, hielt sie es in ihrem Körper nicht aus, die Spannung, die Gegensätzlichkeit, die Wut und den Schmerz. Dann wollte Lola aus sich herausspringen oder eben nur eins von beidem sein: Jude oder Nichtjude.«

Das komplizierte Verhältnis zu ihrem Vater macht es der jungen Frau obendrein schwer. Vater ist eigentlich ein Fremdwort für Lola, denn viel hatte sie nie von Simon. Als sie noch ein Kind war, ist er aus der DDR geflohen. Später zog es ihn in die Ferne, nur weg aus dem verhassten Deutschland, dem er wegen des Antisemitismus den Rücken gekehrt hat und heute lieber in seinem »Scheißdschungel« lebt. Lola schreibt ihrem Vater unzählige Briefe, in denen sie ihre Gedanken und Gefühle ihm gegenüber beschreibt. Nicht einen einzigen schickt sie ab.

Dann lernt Lola Shlomo kennen und beginnt eine Affäre mit ihm, die sie bis nach Tel Aviv führt. Ihrer zweiten Heimat, die Lola mehrmals im Jahr besucht. Hier lebt auch ihr Großvater Gershom. In den ersten Tagen igelt sich Lola in der Wohnung ein und wird dabei von Erinnerungen heimgesucht. Damals, als sie vor 23 Jahren mit Simon vier Wochen in Israel verbracht hatte. »WHAT THE FUCK, LOLA!« Erst diese SMS von Shlomo holt Lola wieder in die Wirklichkeit zurück.

Sie treffen sich am Strand und halten Händchen, was Lola normalerweise hasst. Aber nun ist gar nichts mehr normal und es beginnt für Lola nicht nur eine ganz besondere Zeit mit ihrem Geliebten, sondern eine aufwühlende, erschütternde. Eine Zeit des Krieges zwischen Israel und den Palästinensern. Ausgelöst durch die Entführung von drei israelischen Jugendlichen. Hier verbinden sich die Linien der Wirklichkeit mit der Fiktion, denn die Autorin war 2014 in Israel und berichtete von den Unruhen für das Magazin »Interview«.

Shlomo war früher Soldat, doch nach einem tragischen Erlebnis hat er sich von der Armee abgewandt und ist jetzt Leftist – ein Linksradikaler. Politische Diskussionen in Shlomos Freundeskreis wechseln sich ab mit gefühlvollen Szenen zwischen Lola und ihrem Geliebten. Nur wenige Zeit später eskaliert die Lage, und es kommt zu Angriffen seitens der Hamas. Der Boom – wenn das Luftabwehrsystem Iron Dome die Raketen in der Luft sprengt, sowie der regelmäßige Feueralarm werden von da an zu Lolas täglichen Begleitern.

Mirna Funk hat einen beeindruckenden Roman geschrieben, der getragen wird von der inneren Zerrissenheit einer jungen Frau. Es geht um die eigenen Wurzeln, die eigene Geschichte, der man nicht entkommen kann. Die einen begleitet und für die man einen Weg finden muss, um sie anzunehmen. Als Rahmen dienen wichtige Themen wie die Zerrisenheit zwischen Jude und Nichtjude, und der leider immer noch allgegenwärtige Antisemitismus. Nicht zu vergessen der schwelende Konflikt zwischen Israel und Palästina.

Gleichzeitig ist es eine Geschichte über das Lebensgefühl einer Generation, die sich zwischen allen Konflikten selbst finden will – auch übers Internet, Facebook und Instagram. Alles in allem ein interessanter und aufwühlender Mix aus persönlichem Schicksal sowie gegenwärtiger gesellschaftlicher Situation. All das erzählt Mirna Funk in einem bemerkenswert abwechselnden ernsten und ironischen Sound, der vor Lebendigkeit sprüht, elektrisiert und mich diesen erstaunlichen Roman erst aus den Händen legen lässt, nachdem ich den letzten Satz gelesen habe.

Lola ist eine sympathische Heldin, wenngleich keine einfache Person, eine verlorene Seele, der ich öfter die Hand reichen möchte, um sie aus dem finsteren Tal herauszuziehen. Doch die braucht sie gar nicht, sie findet sich selbst einige Wochen später in Bangkok. Fernab aller Kontakte kommt sie in einem malerischen Resort allmählich zu sich, spürt wie ihr Bauch weicher wird und eine Nähe zu sich selbst aufbaut. So schließt sich langsam der Kreis und auch diese Geschichte, die trotz aller inneren Beben sowie äußeren Konflikte ein versöhnliches Ende hat.

Zum Abschluss habe ich noch eine schöne Nachricht: Mirna Funk erhält für ihr Debüt den Uwe-Johnson-Förderpreis. In der Begründung der Jury heißt es dazu: »Mirna Funk wirft über die Figuren ihres Romans eine Reihe von Fragen auf, die Uwe Johnson hätten sympathisch sein können: Was hat uns in die gegenwärtige Lage gebracht und in welcher Weise sind wir von den Zeitläuften abhängig. Wollen wir so leben und warum nicht. Mirna Funk bringt mit ihrem Roman zudem eine globale Perspektive ein, sie erzählt von latentem Antisemitismus in Europa, sie spielt Kontroversen durch und bleibt dabei erzählerisch konsequent. Und nicht zuletzt fasziniert an ihrem Roman das, was man sinnliches erzählen nennen kann. Darin unterscheidet sie sich von Uwe Johnson.« Gratulation!

Mirna Funk: Winternähe. S. Fischer Verlag, Juli 2015, 343 Seiten, 19,99 €.

Noch mehr von Mirna Funk gibt’s am Sonntag. Da präsentiere ich die Autorin im Interview.

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3 Gedanken zu „Auf der Suche nach uns selbst.

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