Israel. Und seine Menschen.

amos_oz_judasSich auflösen und eins werden mit den Seiten eines Buches. In einem anderen Leben, das sich trotz aller Fremde vertraut anfühlt, als wäre es der eigene Atem. Das überdies geheimnisvoll leuchtet und gleichzeitig im Kopf viele Fenster öffnet. So hänge ich mit meinen Sinnen weiterhin in Jerusalem bei Schmuel Asch, Gerschom Wald und Atalja Abrabanel. Ich mag mich nicht aus »Judas« von Amos Oz lösen, möchte diese besondere Aura, die das Buch wie eine Wolke umgibt, nicht hinter mir lassen. Muss ich auch nicht. Dafür habe ich meinen Blog. So lächle ich und wandere zurück in die ausgelesenen Seiten.

Äußerst stimmungsvoll fängt mich Amos Oz’ Welt ein, die ins winterliche Jerusalem 1959/1960 führt. Es ist mein erster Roman dieses Weltschriftstellers, aber ich fühle mich auf Anhieb geborgen in seiner Sprache, die weich wie Samt ist und so wunderschön bildreich, spannende Geschichten erzählt; dabei wundervolle Atmosphären schafft, fremde Menschen in enge Vertraute verwandelt. Bereits auf der ersten Seite beweist der Autor sein außergewöhnliches Talent: Er beschreibt seine Figuren so genau, dass ich sie förmlich vor mir sehe. Zum Beispiel Schmuels gekräuselte Barthaare, die sein Gesicht vollkommen einnehmen, ihn älter wirken lassen, obwohl er gerade mal 25 Jahre zählt.

Ihn umgibt ein Leuchten, sobald er neue Einfälle hat und andere dafür begeistern kann. Ich fange seine Traurigkeit auf, entdecke die Tränen in seinen Augen, höre sein großes Herz klopfen, dass ein tiefes Mitgefühl in sich trägt und gleichzeitig versucht, die tief verankerte Einsamkeit zu verscheuchen. Wie eine Wolke schwebt über im das Wort „allein“. Da steht er nun, hat ihn doch seine Freundin mit folgenden Worten verlassen: »Du bist entweder wie ein begeisterter kleiner Hund, der kratzt und tobt, und sogar wenn du auf einem Stuhl sitzt, drehst du dich die ganze Zeit um deinen eigenen Schwanz, oder du bist das Gegenteil – liegst ganze Tage lang auf dem Bett wie eine ungelüftete Wolldecke.« Schmuel rennt immerzu durch sein Leben, aber nicht etwa, weil er es eilig hat. Es sehnt sich so sehr nach Ruhe, die er nur unter seiner Winterdecke findet. Doch die Ruhe hat sich nun davongeschlichen und Schmuel zurückgelassen. Auch die ausbleibende finanzielle Unterstützung seiner Eltern setzt ihm zu, schließlich musste die Firma des Vaters Konkurs anmelden. Obendrauf kommt noch ein schwerer Asthmaanfall, so dass Schmuel eine Entscheidung trifft: Er bricht sein Studium ab und damit auch seine Abschlussarbeit, in der er sich mit Judas aus der Perspektive der Juden beschäftigt hat. Und er will Jerusalem verlassen. Doch dann kommt alles anders.

Schmuel will eigentlich eine Annonce ans Schwarze Brett in der Uni-Cafeteria pinnen, um all seine Sachen zu verkaufen. Da springt ihm ein Stellenangebot ins Auge. Gesucht wird ein alleinstehender Student der Geisteswissenschaften als Gesprächspartner für einen behinderten Mann. Als Lohn winkt kostenloses Wohnen und eine kleine monatliches Unterstützung. Schmuel macht sich auf den Weg in die Rav-Albas-Gasse und findet dort Unterschlupf. Für mich eröffnet sich in dem alten Haus eine wundersame und aufregende Welt.

Dort trifft er auf den eigentümlichen Gerschom Wald und die unnahbare, anziehende Witwe Atalja Abrabanel. Sie ist Walds Schwiegertochter. In seiner Mansarde fühlt er sich sofort wohl, »wie eine Winterhöhle.« Mit Gerschom Wald tauscht er sich über allerhand Themen aus – aktuelle, kulturelle und politische sowie über die jüdische Geschichte. Dabei kehren sie sehr weit zurück in die Vergangenheit, bis zu Jesus. Beide teilen die Ansicht, dass Jesus ein Jude war. Amos Oz gleicht einem Nachtwächter, der Licht in Gassen sprüht und dunkle Winkel erhellt, die ich sonst nie betreten hätte. Das ist ungewohnt, bisweilen befremdlich, aber ungemein aufregend und bereichernd.

Nicht nur die wissenschaftlichen Ansichten wecken meine Neugier, auch Thesen wie diese: »Das Judentum und das Christentum und auch der Islam predigen den Nektar des Mitleids und des Erbarmens nur so lange, wie sie selbst über keine Fesseln, keine Macht, keine Folterkeller und keine Galgen verfügen. All diese Religionen, auch die, die in den letzten Generationen entstanden sind und bis heute viele Herzen verzaubern, sind entstanden, um uns zu retten, doch schon bald haben sie unser Blut vergossen. (…) Wenn wir die Welt nur einen Tag lang von allen Religionen und allen Revolutionen befreien könnten – von allen, ohne Ausnahme – , dann würde es weniger Kriege auf der Welt geben, das verspreche ich Ihnen

Ebenso aufregend sind die Gespräche zur Gründungsgeschichte Israels. Hier rückt Ataljas verstorbener Vater, Schealtiel Abrabanel, in den Mittelpunkt. Dieser hatte sich gegen die Politik Ben Gurions gestellt und wurde damit zum Außenseiter gestempelt. »Wir sollten nebeneinander und miteinander leben, Juden und Araber, Christen und Muslime, Drusen und Tscherkessen, Griechen und Katholiken und Armenier, nachbarschaftliche Gemeinschaften, die durch keine Grenzen getrennt werden.« Was hätte sein können? Diese Frage schwebt lange im Raum, wie so viele andere bei der Lektüre dieses hochinteressanten Romans. Sie erzeugen bei mir ein Echo, das immerzu zurückkehrt. Und ich werde nicht müde, darüber nachzudenken, wie anders es hätte sein können, wenn…

»Judas« führt nicht nur auf fiktionaler Ebene in einen politischen und kulturwissenschaftlichen Diskurs. In dem Buch liegt noch eine andere Seite, eine verwunschene, fast märchenhafte, dunkle und sehr atmosphärische, aus der ich mich nur schwer lösen kann. Amos Oz hat vielschichtige, mit sich und der Welt kämpfende Figuren geschaffen. Gerschom Wald braucht die Aufmerksamkeit seiner Gesprächspartner, er liebt es zu reden, sich in Diskussionen zu ergehen. Schmuel sucht einen tiefen Frieden in sich, wird aber von einer Unruhe und zunehmend von einer Sehnsucht nach Ataljas Zuneigung geplagt. Das führt ihn oft auf nächtliche Spaziergänge, durch menschenleere Straßen, nur der Mond über ihm und um ihn herum eine eigentümliche Stille. Dazu die geheimnisvolle und distanzierte Atalja Abrabanel, deren Mann im Unabhängigkeitskrieg auf bestialische Weise ermordet wurde, was sie bis heute verfolgt. Ein rätselhafter Schleier umgibt diese eigensinnige 45-jährige Frau, die für eine Detektei arbeitet.

Es sind die kleinen, wiederkehrenden Rituale, die mir sehr vertraut werden, die liebevollen, aufmerksamen Beschreibungen des Autors zu seinen Figuren und den Schauplätzen seines Romans. Die Gerüche, die Geräusche und Eigenheiten. Wie der herumschwebende Veilchenduft Ataljas oder der Marmeladenbrot essende Schmuel, der in der Küche hoffnungsvoll auf seine Angebetene wartet. Ich lausche dem Gurgeln der Regenrinne und dem klopfenden Winterwind am Fenster. Ich möchte meine Sinne darin eintauchen und nicht wieder auftauchen. Genauso wenig wie aus Amos Oz’s wundervoller Sprache, die Großes erzählt. Natürlich ist Israel ein Land wie kein anderes. Aber es leben dort Menschen wie du und ich – mit all ihren Sorgen und Nöten.

Amos Oz: Judas. Aus dem Hebräischem übersetzt von Mirjam Pressler, die dafür in der Kategorie „Übersetzung“ mit dem Preis des Leipziger Buchmesse 2015 ausgezeichnet wurde. Suhrkamp Verlag, 2015, 335 Seiten, 22,95 €.

Weitere Stimmen über das Buch:

> masuko13
> Deutschlandfunk
> Spiegel Online

13 Gedanken zu „Israel. Und seine Menschen.

  1. geyst

    Das liegt bei mir noch ungelesen. Wärmstens empfehlen kann ich „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“. Das ist bislang mein liebster Roman von Oz.

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  2. dasgrauesofa

    Liebe Klappentexterin,
    Du lässt ja in Deiner Besprechung nichts unversucht, mich zum Lesen des Romans zu mitivieren. Neben der Atmosphäre, die Du so eindringlich schilderst, finde ich ganz besonders die Aspekte interessant, die vielleicht auch die heutige politische Lage ein wenig klarer werden lassen, weil sie aus der Geschcihte heraus erkennbar werden. Und das Religions-Zitat tut sein Übriges…
    Viele Grüße, Claudia

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    1. Klappentexterin Autor

      Liebe Claudia,
      das lese ich mit großer Freude! Nur möchte ich an dieser Stelle kurz anmerken, dass man für das vielschichtige Buch Zeit und Ruhe einplanen sollte. Es ist kein Buch für zwischendurch. Es ist eben etwas ganz Besonderes. Und wenn die Zeit schließlich gekommen ist, kann man sich fallen lassen in eine äußerst interessante, bereichernde und stimmungsvolle Lektüre, aus der man erst wieder auftaucht, wenn das letzte Wort aufgelesen wurde. Und dann möchte man wieder dorthin zurück in dieses wundersame Haus. Na, du wirst es selbst bald erfahren.

      Sei herzlich gegrüßt
      Klappentexterin

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  3. Constanze Matthes

    Dein wunderbarer Bericht bringt mich dazu, das Buch so schnell es geht zu lesen. Mir hat im Übrigen auch „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ gefallen. Oz ist ein großer Autor.

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  4. Der kleine Philosoph

    Oh, hörst sich ja schonmal sehr gut an deine Rezension 😉 Werd aufjedenfall mal reinschauen ins Buch. Hab leider aber schon so viel zu lesen 😀

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