Dame und König.

 dubois

Wie soll man weitermachen, wenn man weiß, dass man verlieren wird? Diese große Frage schwebt wie ein riesiger Schirm über Das Leben ist groß von Jennifer DuBois. Sie ist die Verbindungslinie zu den Koordinaten, die zwei fremde Menschen zusammenführt.

Ich habe gewusst, was mich bei diesem Roman erwartet, als würde das Wetter eintreten, das vorausgesagt wurde. Und trotzdem hat mich Jennifer DuBois mit ihrem hoch gelobten Debüt überwältigt. Der Wind war stärker, die Sonne brennender und der Regen durchdringender. Ich erhebe mich voller Ehrfurcht vor dieser jungen talentierten Autorin und freue mich, euch davon zu berichten.

Jennifer DuBois verknüpft mit ihrem beeindruckenden Debüt zwei Lebensschicksale, die zunächst weit entfernt sind und sich langsam aufeinander zu bewegen. Die Geschichte beginnt im Leningrad der 80er Jahre, als der blutjunge Schachspieler Alexander Besetow nach einer langen Reise im klirrend kalten Leningrad ankommt. „Das Schachspiel gehörte zu Alexander wie seine schlechte Körperhaltung oder sein unauffälliges Gesicht.“ Diese tiefe Verwurzelung mit dem Denksport und sein Erfolg führt das Wunderkind zum Studium an die Schachakademie. Dort bezieht er in einer Kommunalka ein eigenes Zimmer, das ihn vor Kälte fast zersetzt. Die Kälte klammert sich wie ein kläffender, bissiger Köter an seinen Körper und macht ihm zu schaffen. „Die Arme und Schultern schmerzten ihm vom ständigen unmerklichen Zittern; nachts wachte er immer wieder auf, rollte sich zusammen und atmete in sein Kissen, um ein wenig Wärme zu erhaschen, die gleich wieder verging.“  Jennifer DuBois reflektiert dieses gewohnte Bild vom Russland vergangener Zeit, so dass ich mich direkt am Schauplatz wiederfinde und fröstele. Die Kälte ist es auch, die den jungen Mann in die warmen Arme des Cafés Saigon treibt. Dort entdeckt er für sich noch eine Leidenschaft.

Das andere Schicksal führt ins Jahr 2006. In Amerika begegne ich der Ich-Erzählerin, die an Chorea Huntington erkrankt ist. Jahrelang hat Irina gesehen, wie ihr Vater, ein begeisterter Schachspieler, an der Krankheit würdelos zugrunde gegangen ist und Irina weiß: So möchte sie nicht enden. Irina ist ein tieftrauriger Mensch, ein dunkler Teich, in dem von Lebewesen keine Spur zu erkennen ist und einzig der Tod immer wieder auftaucht. „Wer sich nie mit seiner Sterblichkeit auseinandersetzen musste, spricht nicht über den Tod, weil er denkt, er werde erst dadurch real. Und in meinen jungen Jahren hatte keiner meiner Freunde jemand anderen begraben müssen als seine Großeltern oder seinen Hund. Also erkundigte sich niemand nach meinem Vater. Also erkundigte sich niemand nach mir. Und Trauer, die nie Ausdruck findet, geht irgendwann in Verbitterung über.“  Irina vergräbt sich in ihrem Schneckenhaus und lässt niemanden an sich heran, nicht mal ihren Freund Jonathan. Mit 32 Jahren wird sie die ersten Symptome spüren, da scheint es ihrer Meinung nach sinnlos, sich festzubinden. In der Flucht sieht Irina ihre einzige Möglichkeit, dem Ganzen zu entkommen. Zudem treibt sie ein Wunsch um, endlich die Antwort zu finden, die ihr verstorbener Vater seinerzeit vom Schachspieler Alexander Besetow nie bekommen hat: Wie verhält man sich, wenn man weiß, dass man verlieren wird? Irina kündigt ihren Job an der Uni, löst die Wohnung auf, verlässt Jonathan und reist nach Russland.

Dort trifft sie auf Alexander Besetow, der zur gleichen Zeit ebenfalls einen auswegslosen Kampf führt: Er will gegen den russischen Präsidenten antreten und hat sich dadurch viele zu Feinde gemacht, vor denen er Schutz sucht. Alexander isst nie auswärts, verreist nicht und verschanzt sich in seiner Wohnung. Angst bohrt an seiner Existenz wie in Irinas Herzen. So begegnen sich zwei fremde Menschen, die eine innige Verbundenheit fühlen. Irina bringt es auf den Punkt: „Wir waren beide, jeder auf seine Weise, vom Tod gezeichnet. Und uns war beiden, egozentrisch, wie wir waren, nie ernsthaft in den Sinn gekommen, dass auch andere sterben mussten. Und jemanden zu treffen, dem es genauso ging, war eine Erleichterung für uns.“ Irina findet in Alexander nicht nur einen Freund, sondern nähert sich nun ihrem verschlossenen Innenleben, betrachtet sich von außen, schämt sich dafür, ihre Liebe zu Jonathan verweigert zu haben und sieht, „was für einen brutalen Fehler ich selbst begangen hatte, und war dankbar dafür, wie wenig Zeit mir bleiben würde, zu bereuen.“

Jennifer DuBois präsentiert ihren Leser eine Zeitbombe, die mit jeder Seite lauter tickt. Die Spannung ist allgegenwärtig, der Tod und die Angst lauern wie der Wind hinter jeder Ecke und fletschen mit den Zähnen. Die amerikanische Autorin spricht die existentiellen Dinge des Lebens an, wagt sich auf das politische Parkett und streut nachdenkliche Momente in ihren Roman, die der Geschwindigkeit das Tempo entziehen und eine urplötzliche Stille eintritt. In den brutalen Facetten des Lebens hüllt mich die 30jährige Autorin in eine wunderschöne Sprache, schafft eine einnehmende Atmosphäre und nimmt mich mit in die strategischen Züge des Schachspiels. Raffiniert und klug zieht sie mich durch ihren Roman, der an einigen Stellen besonders schmerzt, durch eine Leichtigkeit des Erzählens dennoch niemals ganz zu Boden drückt, stattdessen ein lautes Echo nach sich zieht. Und wie lautet die Antwort auf die große Frage? Die, liebe LeserInnen, findet selbst heraus in diesem umwerfenden Romandebüt! Möge es euch genauso überwältigen wie mich!

Jennifer DuBois: Das Leben ist groß. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gesine Schröder. Aufbau 2013, 448 Seiten, 22,99 €.

20 Gedanken zu „Dame und König.

    1. Klappentexterin Autor

      Oh ja, ich erinnere mich noch sehr gut (und mit einem großen Lächeln) an deine himmlische Besprechung und wie deine Buchstaben vor Begeisterung Funken versprüht haben, liebe Mariki. 😉

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  1. buzzaldrinsblog

    Ein tolles Buch, wie schön, dass es auch dir so gut gefallen hat und wie passend, dass deine Besprechung passend zur Schach-WM erscheint, die ich im Moment begeistert verfolge. 🙂

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    1. caterina

      Du verfolgst begeistert die Schachweltmeisterschaft? Soso! Leider beherrsche ich das Spiel nicht, aber wenn man Romane wie diesen – oder (wie ich kürzlich) Schwimmen mit Elefanten von Yoko Ogawa – liest, dann beginnt man, die Faszination, die Schach ausübt, zu verstehen.

      Wie immer eine im wahrsten Sinne des Wortes ergreifende Rezension, liebe Klappentexterin.

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    2. Klappentexterin Autor

      Du überraschst mich, liebe Mara. Ich wusste gar nicht, dass du eine begeisterte Schachspielerin bist! Nun, warum eigentlich nicht? Toll! Dieses Buch hier ist wirklich groß und ganz besonders. Kein Wunder also, dass wir beide (und Mariki) dieses Debüt so begeistert gelesen haben.

      Das stimmt, liebe caterina. Ich hatte bislang keinen großen Bezug zu diesem Denksport, aber Bücher wie dieses oder Schwimmen mit Elefanten schaffen es auf bemerkenswerte Weise, dass man Schach plötzlich mit anderen Augen wahrnimmt.
      Herzlichen lieben Dank für dein schönes Kompliment!

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  2. Karo

    Danke, liebe Klappentexterin, dass du mich noch einmal in diesen großen Roman hineingezogen hast – ich fand ihn auch überwältigend gut!

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  3. Bücherphilosophin

    Das hört sich nach einem ganz eindrucksvollen Roman an. Ich finde es besonders spannend, wie die Autorin zwei Schicksale, bzw. zwei Erzählstränge zusammen bringt. Das so gekonnt hinzukriegen verlangt viel an erzählerischer Raffinesse. Danke, liebe Klappentexterin, für diesen wunderbaren Lesetipp.

    LG, Katarina 🙂

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    1. Klappentexterin Autor

      Das finde ich auch, liebe Katarina. Wie die junge Autorin das literarisch umgesetzt hat plus die Vielzahl der Themen, ist wahrlich bemerkenswert. Raffinesse ist an dieser Stelle auf jeden Fall das richtige Stichwort dazu.

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  4. lesesilly

    Um dieses Buch streife ich auch schon eine Weile herum und war immer unentschlossen, ob es etwas für mich ist. Aber nach Deiner Rezension bin ich mir nun sicher, dass es die richtige Lektüre ist. Vielen Dank dafür!
    LG
    lesesilly

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    1. Klappentexterin Autor

      Dieses Buch wird dich umhauen, liebe lesesilly, und garantiert genauso begeistern wie mich und all die anderen. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Ich wünsche dir wunderbare Lesestunden und freue mich natürlich sehr, dass ich dir deine letzten Zweifel nehmen konnte.

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    1. Klappentexterin Autor

      Das „dumm“ streichen wir mal hier ganz fix, liebe Mariki. Ich glaube, mir fehlt für diesen Denksport einfach die Ruhe. Ich bin ein sich ständig bewegendes Teilchen, das außerdem noch mit einer großen Portion Ungeduld versehen ist. Ausprobieren würde ich es trotzdem gern einmal.

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      1. Mariki

        Ja, du sagst es. Stillsitzen! Sich konzentrieren! Warten, bis der andere fertig ist! Nichts davon würde ich je schaffen. Ich müsste dazwischen mal schnell in die Kantine rennen. Oder ein Buch lesen.

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  5. lesesilly

    Liebe Klappentexterin,
    du hattest recht. Dieses Buch hat mich umgehauen. Ich konnte mich nicht mehr von meiner Couch erheben. Fand es wahnsinnig interessant und mitreißend. Schade, dass man so wenig darüber hört. Ich finde, dieses Buch verdient viele, viele Leser. Danke nochmals für den grandiosen Tipp.
    LG
    lesesilly

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    1. Klappentexterin Autor

      Hach, liebe lesesilly, was ich mich freu‘! Ich danke dir herzlich für deine Rückmeldung und die begeisterten Worte, die ich so nachempfinden kann! Wirklich schade, dass man über dieses famose Buch so wenig gelesen hat.

      Ich wünsche dir ein gemütliches und schönes 2. Adventswochenende,
      Klappentexterin

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