Monster im Kopf.

Ich kenne solche Momente, in denen im Kopf ein Monster sitzt, das mit hässlichen Worten um sich wirft. Oder die Augenblicke, in denen ich mich von der Welt zurückziehe und im Bett verkrieche, um neue Kraft zu schöpfen. Was bei mir in großen Abständen kurz auftaucht, ist bei Ida Schaumann ein Dauerzustand. Sie ist die Ich-Erzählerin in dem Debüt „Drüberleben – Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein“ von Kathrin Weßling.

Kathrin Weßling hat mich mit ihrer Romanheldin jeden Quadratzentimeter spüren lassen, wie es ist, wenn man mit der Diagnose F 32.2. Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome leben muss. Wir sind beide Menschen mit zwei Armen und zwei Beinen, beide junge Frauen und doch trennt uns etwas. Während ich ohne große Hindernisse durchs Leben laufe, gelingt es Ida gar nicht. „Irgendwann war etwas passiert, das begonnen hatte, den Weg zu zerfressen, den ich ging, etwas, das aus dem Weg einen Hindernisparcours gemacht hatte.“ Ida versteckt sich in ihrer Wohnung, betäubt sich mit Alkohol, ist zu nichts in der Lage und so türmen sich die Müllberge. Aus lauter Verzweiflung lässt sie sich zum wiederholten Male in eine psychiatrische Klinik einweisen. Dort trifft sie auf andere Menschen, die wie sie aus dem Leben gefallen sind.

Kathrin Weßling setzt nicht nur ihre Protagonistin in den Mittelpunkt, sie rückt auch weitere Patienten in den Fokus. Da ist der wütende Simon, dem nachts schlimme Alpträume plagen und der den anderen seinen Zorn ins Gesicht wirft oder Peter, der von Panikattacken eingenommen wird. Es gibt einige Szenen, in der sich eine große Betroffenheit in mir breitmacht. Die erwischt mich besonders in einem ersten Gruppengespräch, an dem Ida teilnimmt. Es geht darum, die Gefühle zu beschreiben und wie es ihnen mit ihrer Krankheit geht. Als eine Patientin vier Wörter ausspricht, vier verdammte Wörter, die wie Chili in den Augen brennen, spüre ich einen Schlag auf meinem Kopf. Diese vier Wörter, die alles beschreiben, die ganze Verzweiflung ausspucken, lauten: „Da ist ja niemand.“ Eben rumorte es noch in dem Raum, jetzt herrscht eine Stille, weil Andrea das ausgesprochen hat, was alle betrifft. Selbst Ida findet sich darin wieder: „Ja, da ist niemand, denke ich. Keiner, der wartet, keiner, der schon gekocht und aufgeräumt hat und mit Geschichten wie Umarmungen am Tisch auf uns wartet. Da ist einfach niemand. Keiner, der da ist, und auch keiner, der vorbeikommt.“

Danach brauche ich Minuten, um wieder klar denken zu können. Genau das schätze ich an diesem Debüt aus: Diese Offenheit. Kathrin Weßling holt mich in eine Welt, über die oft hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Eine Krankheit, die in den letzten Jahren zugenommen hat und nicht aufhören wird, zu wachsen. Die junge Autorin versteckt gar nichts, schaltet das Licht an, wenn ich in einem dunklen Winkel die Sicht verliere. Sie spricht Dinge an, die mich bis ins Innerste erschüttern. Das macht sie in einem sehr eigenen Ton, der dieses Debüt auszeichnet. An einigen Stellen kann ich nicht anders, als zu lachen, so ironisch schreibt sie. Woanders spüre ich den Zorn wie Faustschläge im Gesicht. Die Sprache ist ihre Welt, das erkenne ich in jedem Satz. Die junge Autorin gewann bereits zahlreiche Poetry-Slams und begann einst mit ihrem Blog „drüberleben“ über ihre Depression zu schreiben, mit dem zur „Mädchenbloggerin 2010“ gekürt worden ist.

Was ich an dem Buch schätze, ist der Weg, auf dem ich Ida begleite. Mit dabei ihre Suche nach der erlösenden Antwort für das Übel und dazwischen eigene Erinnerungen, denen sie sich stellt. Langsam, aber stetig. So erfahre ich den Auslöser für ihr Auseinanderfallen. Doch ob der Tod einer geliebten Freundin wirklich der Grund an ihrer Erkrankung ist, wird fragwürdiger je tiefer Ida sich in ihre eigene Vergangenheit gräbt.
Kathrin Weßling erzählt auch davon, wie es ist, wenn der Körper von Gedanken und Gefühlen komplett eingenommen ist: „Ich zähle, weil ich nicht weiß, was ich denken soll. Was ich denken kann und was ich denken muss. Ich zähle, weil Zahlen so viel einfacher zu buchstabieren sind als Gefühle, die sich immer auf eine Art breitmachen, als hätte jemand sie darum gebeten, als hätte jemand, also ich, ihrer selbstverständlichen Präsenz eine Einladungskarte geschickt, auf der steht, dass sie immer willkommen sind, dass sie vorbeikommen können, wann immer sie wollen.“

Die Autorin hat mit ihrem Roman etwas sehr Wertvolles getan. Sie hat mich in einen Menschen blicken lassen, der an einer Depression leidet. Sie hat mich die Monster hören lassen, die in ihrem Kopf wüten. Und das auf bemerkenswerte Weise. Ihr Schreibstil pulsiert vor Kraft und knackt wie ein Apfel. Weiche Töne werden von spitzen Pfeilen getroffen. So traurig und bewegend die Geschichte auch ist, so energiegeladen sind die Wörter, die sie erzählen. Sicherlich bleibt die Betroffenheit, doch es schiebt sich im Verlauf der Geschichte und zum Schluss etwas dazwischen. So Etwas, das die Hoffnung in sich trägt.

Kathrin Weßling.
Drüberleben. Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein.
September 2012, 320 Seiten, 16,99 €.
Goldmann Verlag.


Über die Autorin:

Kathrin Weßling wurde 1985 in Ahaus geboren. Die junge Autorin lebt in Hamburg und hat bereits zahlreiche Poetry-Slams gewonnen. Zudem war sie Protagonistin mehrerer Folgen der Sendung „Slam Tour mit Sarah Kuttner“. Kathrin Weßling für Magazine wie „uMag“ und auf „jetzt.de“ geschrieben. 2010 hat sie angefangen, auf ihrem Blog „drüberleben“ über ihre Krankheit zu schreiben und wurde zum „Bloggermädchen 2010“ gekürt. Die Autorin arbeit derzeit als freie Texterin und Autorin.

Mit dem Buch ist an dieser Stelle nun Schluss, doch am Samstag geht es mit einem Interview weiter. Seid gespannt!

8 Gedanken zu „Monster im Kopf.

  1. buechermaniac

    „Da ist ja niemand“, diese vier Worte sind mehr als ein Hilfeschrei. Schlimm, wenn keiner da ist, dem man erzählen kann, der einem zuhört, in den Arm nimmt und schon nur mit seinem Dasein tröstet. Eines sollte jedem klar werden: es kann jeden erwischen.

    Vielen Dank, liebe Klappentexterin, für diese grossartige Besprechung 🙂

    LG buechermaniac

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  2. buzzaldrinsblog

    Vielen lieben Dank für diese fantastische Besprechung, liebe Klappentexterin. Durch deine Worte konnte ich noch einmal zurück in dieses Buch, das mir so großartig gefallen hat.
    Auch ich konnte mich beim Lesen immer mal wieder wiederfinden, identifizieren und manchmal musste ich dann schon ganz schön schwer schlucken. Ein Großteil meiner Begeisterung für dieses Buch beruht aber auch vor allen Dingen auf dieser großartigen Sprache von Kathrin Weßling, die mich vom ersten Satz an eingenommen hat. Besitz von mir ergriffen hat.

    Ich freue mich schon jetzt auf Samstag! 🙂
    Mara

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    1. Klappentexterin Autor

      Liebe Mara, ja, ich sehe es wie du. Es ist diese großartige Sprache, die dieses Buch trägt und begeistert. Schön, dass du bei mir das Buch hast noch einmal Revue passieren lassen! LG, Klappentexterin.

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  3. buchstabentraeume

    Puh, das klingt ja echt heftig. Ich hatte mich erst nicht weiter mit dem Buch beschäftigt, weil ich dachte, es wäre ein Sachbuch bzw. eine Biographie. Dass es ein Roman ist, macht es nun aber gleich interessanter für mich. 🙂

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    1. buzzaldrinsblog

      Die Vermarktung empfinde ich auch als etwas unglücklich. In dem Buchladen, in dem ich es gekauft habe stand es auch in der Sachbuchecke. Wenn ich mich vorher nicht bereits über das Buch informiert hätte, hätte mich diese Tatsache eher abgeschreckt von einem Kauf …

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