Ein Zauber. In Extraklasse!

Mit Tauben fängt alles an, mit einer Krone hört dieses brillante Buch auf. Genauso schräg, wie es sich anhört ist es auch. Als Russell H. Greenan „In Boston?“ geschrieben hat, gab es mich noch gar nicht. Trotzdem glaube ich, er hat es auch für mich verfasst. Der Amerikaner wusste genau, dass es 44 Jahre nach Erscheinen immer noch jemanden auf der Welt gibt, der diesen Roman mit Begeisterung verschlingen wird. Das Buch wurde 1968 unter dem Titel „It Happened in Boston?“ von Random House herausgebracht und hat mich vollkommen begeistert. Es ist unwahrscheinlich erfrischend, facettenreich und bleibt für mich unvergesslich.

Nun, kehren wir zu den Tauben zurück. Der Ich-Erzähler glaubt, „dass die Tauben mich ausspionieren.“ Sie hocken auf dem Fenstersims und glotzen in seine Wohnung. Im gegenüberliegenden Park betrachtet Alfred das Haus genauer, zählt sechsundvierzig Fenster, „aber nur eins – meins – war mit diesen böse dreinblickenden Vögeln garniert. Fünfundvierzig ohne, eins mit. Das kann kein Zufall sein.“ Alfred probiert alles, um sie zu verjagen, hat vergiftete Brotkrumen verstreut und hofft so, dass er sie endlich loswird. Alfred sitzt gern im Bostoner Public Garden, dort kann er sich den Tagträumen hingeben. Seine Bewusstseinsverschiebung führt ihn an „verschiedene Orte in Zeit und Raum“. So findet er sich mal auf dem Bord eines Schiffes wieder, ein anderes Mal in Sibirien, auf einem einsamen Berg oder auf einem anderen Planeten. Er hüpft zwischen den Epochen hin und her. Ich frage verwundert, wo will der Autor mit mir hin? Will er mich auf den Arm nehmen? Es bleibt bei den Reisen wie Alfred sie selbst nennt, sie sind ganz normal wie der morgendliche Kaffee, den er zum Frühstück trinkt. Wenn Alfred nicht verreist, unterhält er sich mit einem altklugen Jungen. Randolph ist sieben oder acht Jahre alt und trägt als besten Freund eine Frosch-Handpuppe mit sich herum. Ausflüge ins Café und in die Bibliothek gehören genauso in Alfreds Tagesablauf wie die Platten, die er abends hört. Ein ruhiges Leben, das trotzdem auf eine bestimmte Weise aufregend ist und mich sofort an Haruki Murakami denken lässt. Denn es hat was von den Alltagshelden aus der Welt des Japaners, in der sich eigentlich nichts ereignet und doch so viel passiert. Die Wolken am Himmel brauen sich zusammen und verschlucken allmählich die Sonne, so ungefähr. Sei auf der Hut, lieber Leser, und ruh dich nicht aus, denn der Wolkenbruch naht…

Aus dem Buch strömen zunächst entspannte Melodien, die mir öfter bei den amüsanten Dialogen und den Gedanken des Ich-Erzählers ein Schmunzeln entlocken. Ich mag Alfred sofort. Der Kerl ist mir sehr sympathisch, ein bisschen eigen vielleicht, aber bemerkenswert. Ich mag seine Art durchs Leben zu laufen und die Lebensweisheiten, die er mir vor die Augen streut: „Unglück ist ein Zufall, der nichts kostet.“ Herrlich komisch! Das ist Alfred. Er malt auch Bilder, keine modernen, sondern die der Alten Meister, die ihm ein exzentrischer italienischer Maestro in den jungen Jahren beigebracht hat. Daran hält er bis heute fest, nur hat Alfred damit in der modernen Welt wenig Erfolg, bis er eines Tages auf den Kunsthändler Victor Darius trifft.

Jonathan Lethem spricht in dem Nachwort von einem „Zauberbuch“. Ja, das ist es, aus dem Bereich der Extraklasse wohlbemerkt! Es berührt die Sinne und offenbart Geheimnisse, von denen du nicht ansatzweise geahnt hast. Gerade zum Ende hin wird es äußerst rasant und skurril. Der Wahnsinn kriecht wie eine Maus aus dem Loch und hängt sich dem Protagonisten ans Hosenbein. Erst jetzt weiß ich, was mit dem Ausspruch gemeint ist: „Ich weiß nicht, warum ich das alles aufschreibe. Wen interessiert es schon? Es gibt keine Action, die dem Leser wacklige Knie machen oder einen Schauer über den Rücken jagen, nichts Nervenaufreibendes, Blutrünstiges, Zähneklapperndes, Haarsträubendes oder Herzergreifendes, um ihn bei der Stange zu halten. Zumindest noch nicht. Aber ich bin auf der Hälfte mit meinem Bericht – wenn überhaupt. Was noch kommt, ist interessant; zumindest glaube ich es.“ Hiermit streiche ich einfach mal das „glaube“, denn es knallt gewaltig. Der Ich-Erzähler schleudert mich aus dem Sitz, später erst, wenn ich nicht damit rechne und noch die Wolken betrachte. Plötzlich weht ein Orkan durch die Seiten, der messerscharf alle Sinne ergreift.

Überraschende Wendungen bringen mich vom Weg ab und jagen meinen Puls in die Höhe. „In Boston?“ ist ein Spaziergang durch alle Genres der Literatur und Jahreszeiten. Es ist verheißungsvoll wie der Frühling, erhitzend wie der Sommer, melancholisch wie der Herbst und fröstelnd wie kalte Wintertage. Russell H. Greenan entführt mich in die Kunstwelt, bringt mich zu den Kunst-Revoluzzern Benjamin Littleboy und Alfred. Jeder hält an seinem Stil fest, hungert lieber, anstatt sich zu verbiegen. Littleboy sucht irgendwann Geld auf der Straße, um seine Familie zu ernähren. Leo Faber, der Dritte im Bunde, vertritt eher das konservative Glied in der Kette, die von tiefer Freundschaft geprägt ist.
Ich sehe jedes Kunstwerk vor mir, so exakt beschreibt der Autor die Bilder und die Ansichten des Künstlers: „Es ist traurig, aber wahr, dass gute Gesichter in der heutigen Zeit eine Seltenheit sind, denn der Wert eines Gesichts hängt von seinem Ausdruck ab, und moderne Züge haben entweder keinen Charakter oder sind von Aspekten geprägt, die dem Auge unangenehm sind.“

Das Buch wird bei mir bleiben, im Regal und im Kopf gleichermaßen. Unsere Begegnung war schicksalhaft. Ich habe den Roman 2007 das erste Mal im Vorbeigehen als gebundene Ausgabe irgendwo liegen sehen. Jetzt fiel es mir durch Zufall wieder ein, wie ein Staubfusel tauchte es unerwartet auf. Es war nur eine logische Schlussfolgerung, dass ich es mir dieses Mal anschaffen und endlich lesen sollte. Welch gute Entscheidung, welch Genuss, welch Glück! Eben ein Zauber.

Russell H. Greenan.
In Boston?
Februar 2010, 400 Seiten, 9,90 €.
Diogenes Verlag.

15 Gedanken zu „Ein Zauber. In Extraklasse!

  1. Annegret

    Liebe Klappentexterin,

    es ist schön zu lesen, wie Dich das Buch fesseln konnte. Das zeigt, daß es nicht immer neue Bücher sein müssen, auch ältere Bücher oder Neuauflagen können begeistern.
    Deine Rezension hört sich sehr interessant an.

    LG
    Annegret

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  2. Klappentexterin Autor

    Liebe Annegret,
    bei den vielen jährlichen Neuerscheinungen gehen ältere Werke oder Neuauflagen manchmal unter, aber sie sind mir genauso eine Herzensangelegenheit. In diesem Sinne danke ich dir für deine Gedanken zum Buch. Es ist wirklich sehr, sehr lesenswert und wie gesagt für mich unvergesslich!

    Sonnige Sonntagsgrüße
    Klappentexterin

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  3. Petra Gust-Kazakos

    Ein fantastisches Buch ist das, liebe Klappentexterin. Ich habe es auch vor einigen Jahren gelesen und war restlos begeistert! Manchmal fragt man sich, warum derartige Bücher so lange brauchen, bis irgendwer sie „neu entdeckt“ und sie endlich wieder verlegt werden.

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    1. Klappentexterin Autor

      Ach, wie toll! Das freut mich sehr, liebe Petra! Ja, genau das frage ich mich auch, aber zum Glück hat mir das Universum dieses großartige Buch in die Hand gelegt. Und hoffentlich findet es noch weitere Leser, die es genauso begeistern kann wie uns. LG, Klappentexterin

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  4. buzzaldrinsblog

    Tolle Rezension, liebe Klappentexterin, die bei mir sofort unbändige Lust auslöst, das Buch zu lesen. Ich kannte vorher weder Buch noch Autor, doch hast du mich angesteckt und neugierig gemacht. Ich finde es schön – zwischen der Fülle an Neuerscheinungen – diese ausgewählten Perlen entdecken zu können … 🙂

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    1. Klappentexterin Autor

      Das lese ich mit einem Lächeln, liebe Mara! Bei unseren vielen Parallelen bin ich mir sicher, dass du wie ich irgendwann – wenn dich der Staubfusel trifft – mit diesem ungewöhnlichen Buch wahre Lesefreuden erleben wirst.

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  5. buechermaniac

    Mir geht es wie Mara. Ich habe noch nie weder vom Autor noch vom Buch gehört. Schön, dass einmal mehr bei Diogenes solch eine Perle zu finden ist. Du hast mich mit deiner Rezension sehr neugierig gemacht.

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  6. Klappentexterin Autor

    Ganz wunderbar finde ich das! Habt vielen Dank für eure Kommentare! Es freut mich sehr, dass ihr mit meiner Rezension auf ein bislang unbekanntes Buch bzw. auf eine Lektüre gestoßen seid, die gerade jetzt richtig gut passt. Ich wünsche euch aufregende und unvergessliche Stunden mit diesem großartigen Buch!

    Herzlichst,
    Klappentexterin

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  7. lesesilly

    Liebe Klappentexterin,
    habe mir das Buch gleich nach Deiner Rezension besorgt und soeben ausgelesen. Ich weiß nicht so recht, wie ich es beschreiben soll. Erst dachte ich, was ist das für ein Buch? Was will mir der Autor sagen? Dann wurde ich immer mehr in seinen Bann hineingezogen und fand es total spannend, sodass ich nicht mehr aufhören konnte zu lesen. Aber das Ende? Was bedeutet dies? Ich bin etwas ratlos. Alles in allem hat es mich aber sehr fasziniert und ich bin froh, es gelesen zu haben. Danke!
    LG
    lesesilly

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  8. Klappentexterin Autor

    Vielen, vielen Dank für deinen Kommentar, liebe lesesilly! Er hat mir einen guten Einblick in deine Lesemomente geschenkt. Es freut mich sehr, dass dich die Neugier zum Buch geführt hat und du es bereits verschlungen hast! Tja, nur das Ende… dies ist ein kleiner Irrgarten, aus dem ich bislang auch nicht herausgefunden habe, doch irgendwie finde ich, es passt, selbst wenn es so undurchsichtig ist. Ich mag manchmal solche Enden, die ich nicht zu fassen bekomme. LG, Klappentexterin

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  9. Dina

    Deine Rezensionen sind wirklich toll, ein riesengroßer Lesespaß. „In Boston?“ ist für mich die Neuentdeckung die ich heute gleich bestellen werde.
    Liebe Grüße Dina

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    1. Klappentexterin Autor

      Danke für die Blumen! Das beglückt mich genauso wie die Tatsache, dass du diesem großartigen Buch bald lesend begegnen wirst. Viel Spaß damit!

      Liebe Grüße,
      Klappentexterin

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