Es ist lange her, dass ich mich in einem Bilderbuch verloren habe. Viel zu lange schon. Als großes Kind kehre ich gern in die vertraute Welt zurück. Dort, wo Buchstaben in die Ecke huschen, die Illustrationen den ganzen Raum einnehmen und sich vor meinen Augen ein Kino aufbaut. Bislang waren die Bilder meist bunt und hoffnungsfroh, verspielt oder übermütig, dieses Mal jedoch nicht, denn „Mias Traumbär“ springt aus der Reihe. Der koreanische Autor Beong-gi Bae und die Illustratorin Seung-min Oh haben ein sehr nachdenkliches Bilderbuch über Einsamkeit und Armut geschaffen.
Mia ist unsere kleine Heldin. Sie lebt in einer großen Stadt, ziemlich weit draußen und hat es nicht leicht. Sie ist ganz allein zu Hause. Es gibt kein Spielzeug, mit dem sie sich beschäftigen kann, einzig ein Bilderbuch, in das sie eintaucht und die Dunkelheit draußen vergessen lässt. So kuschelt sie sich in den „weinroten Pullover“ der Mutter und trifft den großen, weißen Bären. In dem Buch besucht er ein Mädchen und verbringt mir ihr gemeinsam „den schönsten Tag ihres ganzen Lebens“. Als Mia zum wiederholten Male das Buch von vorn durchblättert, bleibt sie an ihrer liebsten Stelle stehen, und zwar dort, wo der Bär das Mädchen in den Arm nimmt. Da steigt ein sehsuchtsvoller Wunsch aus ihrem Herzen nach draußen und sie sagt: „Ach, wenn ich doch auch so einen Freund hätte…“ Je mehr sie sich in das Bild vertieft, um so mehr glaubt sie, dass er neben ihr steht. Genau das macht der Bär auf der nächsten Seite. Groß und weich steht er vor dem Mädchen, begrüßt Mia ganz herzlich. Gemeinsam begeben sie sich auf eine abenteuerliche Reise, die nicht in eine andere Welt führt, sondern nur ein Ziel hat: Mias Mama nach Hause zu holen.
Mit sanfter Hand erzählen der Autor und die Illustratorin eine Geschichte, die viel mit mir anstellt. Nachdenklich streife ich über die ersten Seiten, die von Kälte und Dunkelheit fast verschluckt werden. Dunkelgraue und tiefbraune Farbtöne drängen sich in den Vordergrund, so dass selbst die Katze auf der Tonne fast mit dem Hintergrund verschwimmt. So dominant das Dunkle auf dem ersten Blick scheinen mag, es gewinnt nie an Oberhand. Jedes Bild überrascht mit besonderen Lichtpunkten wie die hell erleuchteten Buchseiten, der schöne weinrote Pullover und natürlich der große Bär, der sofort eine wohlige Wärme und Gemütlichkeit verströmt. Er ist so groß, dass er stellenweise fast eine ganze Seite einnimmt und in mir den Wunsch weckt, mich an ihn zu schmiegen und getragen zu werden. Die beiden erleben allerhand Abenteuer, bei denen ich das Dunkle vergesse, lächle und vollkommen verzaubert bin. Ein pelziges Wesen auf dem kalten Taxi sitzen zu sehen, entlockt mir ein verzaubertes Lächeln. Genauso schön ist es, als ich die beiden im Zug entdecke. Viele kleine Fenster und in einem sehe ich Mia mit ihrem großen Freund. Bewegend hingegen ist das Wiedersehen mit der Mutter, die ihre Tochter so sehr im Arm hält, dass selbst ich die Umarmung spüren kann. Auch die Begegnung mit dem trinksüchtigen Vater hinterlässt eine große Nachdenklichkeit.
„Mias Traumbär“ ist eine zauberhafte Reise, die sich sehr feinfühlig und poetisch mit brisanten Themen wie Armut und Einsamkeit beschäftigt. Der Autor und die Illustratorin schauen nicht weg, sondern konfrontieren ihre Leser direkt, von Angesicht zu Angesicht. Dennoch erdrücken sie mich nicht, dafür ist das Weiche zu mächtig, das mich in den großflächigen Zeichnungen auffängt. Irgendwann spüre auch ich so etwas Warmes auf meiner Hand. War das etwa die Tatze vom großen weißen Bär? Oder einfach nur ein Traum? Nun, die Antwort weiß ich nicht. So ist es wohl, wenn die harte Realität mit der weichen Traumwelt zusammentrifft.
Beong-gi Bae, Seung-min Oh.
Mias Traumbär.
August 2011, 36 Seiten, 14,90 €.
Altersempfehlung: Ab 5 Jahren.
aracari verlag.
Ganz tolle Bilder und eine wunderbare Besprechung. Herzlichen Dank dafür! Ich glaube, dieses Buch wird bald bei mir einziehen.
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Liebe Ada, das schenkt mir ein Lächeln, vor allem auch deshalb, weil deine schöne Kinderbuchsammlung einen weiteren Schatz dazubekommt.
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Die Bilder sind ja wirklich allerliebst!
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Auch ich bin ganz berührt von den Bildern und der von dir geschilderten Geschichte. Was für ein schönes Buch. LG Mila
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Freut mich sehr, dass es euch genauso geht wie mir!
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Ganz bezaubernde Bilder. Man hat das Bedürfnis, sich zu Mia zu setzen, sie in den Arm zu nehmen und gemeinsam mit ihr das Bilderbuch anzuschauen. Ich mag sorgfältig illustrierte Bilderbücher sehr, auch die Geschichte berührt einem. Schon wieder ein Buch, das auf die Merkliste wandert.
Liebe Grüsse
buechermaniac
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Es ist immer wieder faszinierend, wie kraftvoll Illustrationen sein können und uns damit die Protagonisten auf besondere Weise nah heranbringen. Wirklich schön, dass dieses eindrucksvolle Bilderbuch auf deine Merkliste wandert.
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Liebe Klappentexterin,
auch ohne das Buch vor sich liegen zu haben, wird man von Dir und Deiner Rezension in die Buchwelt hineingetragen. Man fühlt sich so wie die kleine Protagonistin Mia auf der Suche nach Liebe, nach einem Freund. Einfach wunderbar!
Ja, auch Kinderbücher oder Bilderbücher können sehr anspruchsvoll sein. Ich verneige mich vor allen Autoren.
LG
Annegret
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Ja, liebe Annegret, ich stimme dir zu, die Autoren und Illustratoren verdienen eine Hochachtung, für das, was sie schaffen. Beachtenswert finde ich darüber hinaus, wenn sie sich mit aufwühlenden Themen beschäftigen und das auf so zauberhafte Weise umsetzen.
Ich freue mich, dass du mit mir gemeinsam Mias Welt ein Stückchen miterleben konntest.
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Was ich bei Ada und dir so mag ist die Möglichkeit, jetzt schon eine Liste mit Büchern für unser Baby anlegen zu können: Das wird am Ende ein großer Wunschzettel, den ich unter den Verwandten und Freunden verteilen werde. Danke dafür!
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Das schenkt mir ein wunderschönes Gefühl. Hab vielen Dank für dein besonderes Danke! Ich sehe euch schon jetzt vor mir, wie ihr mit staunenden Augen zusammen durch die Kinderbuchwelt spazierengeht.
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Sobald der Kleine laufen kann, werden wir das tun 🙂
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Das ist wirklich ein sehr sehr schönes Buch! Ich bin ja immer auf der Suche nach Büchern, die fast ohne Text auskommen und dennoch so viel aussagen können. Manchen Bilderbüchern wohnt eine ganz eigne Poesie inne, die man in einem „normalen“ Buch oft genug vergeblich sucht.
Danke für die schöne Buchvorstellung!
Liebe Grüße, muselmu
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Lieben Dank für deine Zeilen! Eine große Freude sitzt jetzt bei mir, dass ich deinen Fundus nach schönen Büchern auf diese Weise bereichern konnte.
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Wunderschöne Bilder und eine wundervolle Besprechung, die mich das Buch beim nächsten Besuch in der Buchhandlung ganz sicher in die Hand nehmen lässt.
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Das freut mich, liebe Nina!
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