Ein würdevolles Familienerbe.

Außergewöhnliche Familiengeschichten müssen erzählt werden und ich bin froh, dass Marion Brasch dies getan hat. Die Berliner Autorin ist die einzige Stimme der Familie Brasch, die noch lebt und die Geschichte in „Ab jetzt ist Ruhe“ für alle öffentlich macht. Das Buch sticht für mich aus den Frühjahrsneuheiten heraus, denn es ist so eins, bei dem meine Augen automatisch leuchten, wenn ich darüber spreche. Kleine Sterne, die auch im Tageslicht strahlen und die Nacht überdauern.

Marion Brasch fängt mich schon mit ihrem ersten Satz ein: „Ich war vier Jahre alt, als ich das erste Mal von zu Hause fortlief.“ Sie selbst könnte sich daran nicht mehr erinnern, doch ihr wurde diese Begebenheit „von verschiedenen Seiten auf sehr widersprüchliche Weise kolportiert.“ Was für ein Mädchen! Mutig und abenteuerlich ist sie, einfach mitreißend sind ihre Sätze, die wie feine Fäden gleich an meinen Augen ziehen. So verwundert es nicht, dass ich ihr folge. Und ich stecke ganz schnell mittendrin in der Familie Brasch, in der es eine Oma London und eine Oma Potsdam gibt. Für die letztere dreht die kleine Marion Zigaretten und darf so lange Westfernsehen gucken, wie sie will. Ihre Oma Potsdam ist es auch, die der Enkelin Geschichten von damals erzählt: „Es war die Welt einer wohlhabenden jüdischen Familie, die aus einem Kaff bei Breslau nach Berlin gekommen war.“ Da blitzt das eine Wort auf, das ihre Mutter und den Vater einst vereinte: jüdisch. Waren es doch die jüdischen Wurzeln, die Gerda und Horst zusammenführen sollten. Beide sind im 2. Weltkrieg nach England geflüchtet und lernten sich im Londoner Exil kennen. Marions Vater war ein überzeugter Katholik, der in England im „Kommunistischen Manifest“ eingetaucht war und dem es nach dem Krieg nach Ostberlin zog, um dort den Kommunismus zu leben. Seine Frau folgte ihm ein Jahr später mit dem ersten Sohn, nur widerwillig, denn sie sehnte sich zurück in ihre Heimat nach Wien. Thomas sollte nicht das einzige Kind der Familie Brasch bleiben. Danach folgten noch Klaus, Peter und Marion.

Während der Vater ganz in seiner Funktion als SED-Parteifunktionär aufging, fanden seine Söhne in der Literatur und Kultur ein Ventil für ihren Unmut gegen das System. Thomas wurde Schriftsteller, Klaus Schauspieler, Peter verfasste Theaterstücke und Hörspiele. Jeder wehrte sich auf seine Weise und Marion saß zwischen den Stühlen. Der staatstreue Vater auf der einen Seite, die rebellischen Brüder auf der anderen. Den Vater empfindet sie als hart, dennoch entzieht sich ihm nicht, besucht ihn auch später nach ihrem Auszug. Während ihre Brüder ihrer Berufung folgen, schwimmt Marion ziellos umher und formuliert mit 23 Jahren einen entscheidenden Satz, der verdeutlicht, wie sich die junge Frau im Vergleich zu den schöpferischen Brüder fühlt: „Meine Brüder hatten in dem Alter schon ganz andere Dinge getan als ich jetzt.“

In einem Gespräch erzählte Marion Brasch, dass sie die eigene Familiengeschichte ihrer Tochter nahe bringen wollte. Das spüre ich in jedem Satz. Die Autorin schreibt nicht trocken oder ausschweifend erklärend, sondern bleibt durch und durch menschlich. Wie eine gute Freundin, der man gebannt bei einer Tasse Tee lauscht. Leichtfüßig schreite ich durch die Geschichte, finde mich in dunklen Ecken wieder, sinke jedoch niemals tief, weil mich Marion Brasch immer wieder hochzieht. Der Erzählton hat etwas von einem Sommerwind, der durch das verschwitze Gesicht fährt und Schweißperlen wegpustet. Ich möchte tanzen, so herrlich unbeschwert lesen sich ihre Sätze! Marion Brasch baut keine Barrieren auf, die blockieren. Nein, sie schreibt ohne Umschweife, bringt die Dinge auf den Punkt, bleibt als sympathische Erzählerin bodenständig. Bei den eigenen Gedanken und Gefühlen ist sie direkt, nennt alles bei seinem Namen, so dass ich es spüren kann wie die Lederjacke ihres ältesten Bruders: „Er war neunzehn, sah toll aus und trug eine Lederjacke, die unglaublich gut roch und bei jeder Bewegung knarzte wie ein alter Baum.“ Distanziert bleibt sie hingegen außerhalb ihres eigenen Universums, die eigenen Brüder erwähnt sie nie mit ihren Namen wie so viele andere Dinge. Dafür nutzt sie signifikante Merkmale wie „der Dichter mit der weiten Stirn“. Anfangs war ich ein wenig unruhig, weil ich nicht immer sofort wusste, um wen es sich handelt. Doch das legte sich mit der Zeit, schließlich ging es hier um die Familiengeschichte, bei der genaue Klassifizierungen eine Nebenrolle spielt.

Das Buch strahlt eine besondere Wärme aus, die glücklich macht, obwohl sich einige Passagen aufwühlend lesen. Es enthält auch wunderschöne, herzergreifende Anekdoten wie die, als Marions ältester Bruder an ihrem sechsten Geburtstag sagt, er würde sie heiraten, wenn sie achtzehn sei. Diesen Zauber macht ihr „blöder kleiner Bruder“ noch am gleichen Tag zunichte, als er verrät, dass Schwestern und Brüder nicht heiraten dürften. Gleichzeitig bewege ich mich durch das Berlin vergangener Jahre, spüre den kalten Windzug die maroden Altbauhäuser und das Pochen auf den Straßen je weiter wir uns auf das Jahr 1989 zubewegen. Marion Brasch führt mich genauso durch die Geschichte eines Landes, in dem ich meine ersten Jahre verbracht habe. Ich erlebe den Widerstand der Brüder, die Gesetze, denen man nicht entkommen konnte und eine junge Frau, die ihren Weg sucht, irgendwo dazwischen. Liebenswert ist der Titel des Romans, der mich an eine herzliche Umarmung erinnert. Es ist jener Satz, den die Mutter und die Kinder vorm Schlafen stets in den Raum warfen, nach dem Gutenachtkuss sprach jeder ein Wort: Ab-jetzt-ist-Ruhe! So werden aus Worten bedeutungsvolle Momente wie der Roman selbst. Marion Brasch ist ein großes Erbe angetreten, dem sie mit diesem Buch würdevoll begegnet ist.

Marion Brasch.
Ab jetzt ist Ruhe.
Februar 2012, 398 Seiten, 19,99 €.
S. Fischer Verlag.

Mit dem Roman ist hier erst einmal Schluss, doch mit Marion Brasch geht es am Sonntag weiter. Dann kommt die Autorin in einem Interview bei mir zu Wort.

16 Gedanken zu „Ein würdevolles Familienerbe.

  1. buechermaniac

    Es ist erstaunlich, über wie viele jüdische Lebenswelten ich momentan purzle, nun auch wieder hier bei dir. Eine sehr schöne Rezension, einmal mehr, so dass ich auch hier wieder Freude verspüre, dieses Buch auch für mich zu entdecken. Gespannt bin ich natürlich auch auf das Interview.

    Ein schönes Wochenende
    buechermaniac

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    1. Klappentexterin Autor

      Vielen lieben Dank für deinen Kommentar, der mich wie immer erfreut! In dem Buch steht vor allem die Familiengeschichte im Vordergrund, weniger die jüdische Lebenswelt, aber am Ende ist das Judentum die Wurzel zu allem, denn ohne die hätten sich die Eltern nie kennengelernt und die Kinder wären nie geboren worden. Ist es nicht immer wieder unglaublich? Das Leben und seine Zufälle? An welche anderen Bücher hast du gedacht, wenn ich mal neugierig fragen darf?

      Herzliche Wochenendgrüße auch an dich,
      Klappentexterin

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      1. buechermaniac

        Na, zum Beispiel das Buch von Mila Lippke „Morgen bist du noch da“ und im Moment bin ich am neuen Roman von Jessica Durlacher „Der Sohn“, den ich als nächstes rezensieren werde, auch hier geht es um eine jüdische Familie.

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  2. Yvonne

    Oh, toll dass du dieses Buch empfiehlst. Ich war vorher schon so heiss darauf es zu lesen und jetzt natürlich erst recht. Das ist eine so spannende Familie.

    Liebe Grüße
    Yvonne

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  3. buzzaldrinsblog

    Herzlichen Dank für diese wundervolle Rezension, liebe Klappentexterin, die mich sehr beeindruckt und mit dem unbedingten Wunsch das Buch auch haben zu wollen, zurücklässt.
    Ich hatte das Buch schon beinahe gekauft, als ich dann jedoch einige Rezensionen las, die mich nicht so begeistert haben – das Buch wurde eher als „trivialere“ Literatur bezeichnet; als nicht unbedingt literarisch anspruchsvoll. Das hatte mich dann doch etwas verwundert.

    Im Mai kommt Marion Brasch hier her und ich freue mich schon sehr auf ihre Lesung! Und auf dein Interview mit ihr 🙂

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    1. Klappentexterin Autor

      Liebe Mara, ich werde dich die Tage auch auf deinem Blog besuchen, so viel schon vorab, denn du hast wieder besondere Bücher bei dir besprochen, die mich sehr interessieren. Leider ist mein Zeitkonto die Tage etwas begrenzt. Jetzt aber zu mir bzw. Marion Brasch: Wenn du von Rezensionen sprichst, meinst du dann die aus der Presse? Einige waren wirklich nicht schön und in meinen Augen überhaupt nicht gerechtfertigt. Muss ein Buch immer ein literarisches Meisterwerk sein, um ein Meisterwerk zu sein? Ich finde nicht. Nun, das mag der Anspruch vieler Feuilletons sein, aber nicht meiner. Wenn mich ein Buch glücklich macht, weil es einfach gut erzählt ist, ist es für mich brillant. Trivial ist für mich was ganz anderes, aber ich bin ja nur eine Literaturbloggerin. ; )

      Dann freu dich schon jetzt auf die Lesung! Ich habe sie ja bereits erleben dürfen.

      Herzlichst,
      Klappentexterin

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  4. buzzaldrinsblog

    Liebe Klappentexterin,

    das mit der Zeit kenne ich nur zu gut. Im Moment freue ich mich, wenn die Zeit zum Lesen reicht – da komme ich kaum noch dazu auf Kommentare in meinem eigenen Blog zu antworten. Also lass dir ruhig Zeit mit einem Besuch auf meiner Seite.
    Ich danke dir für deine lange und informative Antwort und dafür, dass du mir geschrieben hast, obwohl du so eingespannt bist. 🙂 Mit „Rezensionen“ habe ich mich auf Besprechungen in den Zeitungen bezogen, die zum Teil sehr harsch und negativ waren und die mich doch erst einmal etwas von dem Roman abgebracht haben … aber deine Rezension und die Begeisterung, die du wieder einmal so genial transportieren konntest, haben mich nun überzeugt, das Buch doch zu lesen!

    Dankbare Grüße
    Mara

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    1. Klappentexterin Autor

      Liebe Mara, ja, die Zeit kann ein fieser Dieb der Bücher sein, nicht wahr? Trotzdem bist du sehr fleißig dabei, wenn ich das mal anmerken darf! : )
      Genau die Besprechungen aus den Zeitungen meine ich. Wie ich oben schon geschrieben habe, konnte ich der Kritik in keinster Weise zustimmen und war schon sehr geknickt. Deshalb freut es mich um so mehr, dass ich durch meine Rezension die Neugier auf das Buch bei dir erneut wecken und die bösen Geister verjagen konnte.

      Glückliche Grüße
      Klappentexterin

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  5. Pingback: TACH

  6. Annegret

    Liebe Klappentexterin,

    Du hast mich mit Deiner Rezension sehr neugierig gemacht. Ich liebe Biographien, weil man mehr über die Menschen erfährt, über die familiären Zusammenhänge. Danke für die Vorstellung!

    Schönes Wochenende!

    Annegret

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    1. Klappentexterin Autor

      Hab lieben Dank für deinen Besuch und deinen Kommentar, liebe Annegret! Und ich freue mich sehr, dass ich dich auf das Buch neugierig machen konnte.

      Sonnige Sonntagsgrüße
      Klappentexterin

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